středa 3. listopadu 2010

Rückwirkende moralische Rechtfertigung des antitschechoslowakischen Widerstandes dank Wortwahl in Klaus´ Rede

Lukáš Beer
Frau Mathilde Najdek hat der Redaktion spontan ihre Übersetzung eines neulich auf NÁŠ SMĚR in tschechischer Sprache erschienenen Artikels zukommen lassen. Dies dankenswerterweise als kleine Zugabe für unseren überschaubar kleinen, aber immerhin bestehenden deutschsprachigen Leserkreis.
Eine kleine fiktive Begebenheit zum Abwägen. Man schreibt das Jahr 1930. Aus Anlass des zwölften Gründungsjahres der Tschechoslowakischen Republik am 28. Oktober schickt sich im Rundfunk der Staatspräsident Tomáš Garrigue Masaryk an, eine Ansprache an die gesamte Bevölkerung des neuen Staates zu richten. Die Ansprache des Präsidenten der jungen Republik soll in Direktübertragung vom Tschechoslowakischen Rundfunk gesendet werden, der in seinen Sendungen in deutscher, ruthenischer und ungarischer Sprache später auch die Ansprache des Präsidenten in den anderen Sprachversionen ausstrahlen wird.

Es kommt der mit Spannung erwartete feierliche Augenblick, als der Präsident aller Tschechoslowaken ans Mikrophon tritt. Seinen Worten werden jetzt aufmerksam Tausende Zuhörer lauschen und in den nächsten Tagen werden den genauen Wortlaut dieser Ansprache weitere Tausende in der Tagespresse nachlesen können. Seine Worte sind, wie es sich für den verehrten weisen Präsidenten des tschechoslowakischen Staates gehört, an alle Bürger der Tschechoslowakei (und nicht nur an die Tschechen) gerichtet – nämlich an die fast 7,5 Millionen Tschechen, an weitere 3,2 Millionen böhmische, mährische und Karpatendeutsche; an 2,3 Millionen Slowaken, siebenhundert Tausend tschechoslowakischer Ungarn, 600.000 Russen und Ruthenen und an weitere Bürger dieses Vielvölkerstaates.

Gerade als T.G.Masaryk in dieser kleinen erdachten Geschichte mit dem ersten Satz anfangen will, schlägt wie aus heiterem Himmel ein Blitz in den Prager Hradschin und gleichzeitig in das Gebäude des tschechoslowakischen Rundfunks ein. In den Rundfunkgeräten beginnt es zu knacken und nach einer Weile erschallen aus dem Gerät sonderbare Laute. Da ertönt aus dem Äther die Stimme eines bisher unbekannten Mannes: „Sehr geehrte hochgestellte verfassungsmäßige Sachwalter, meine Damen und Herren, liebe Zuhörer von Rundfunk- und Fernsehstationen, ich heiße Sie an dem heutigen festlichen Abend willkommen, da wir uns ins Gedächtnis rufen, dass – genau vor zweiundneunzig Jahren – der moderne tschechische Staat gegründet wurde…“

Ja, es sind die einleitenden Worte des derzeitigen tschechischen Staatspräsidenten Klaus, vorgetragen in diesem Jahr am 28. Oktober. Schwer zu sagen, was die Rundfunkhörer aus dem Jahr 1930 im ersten Augenblick mehr irritiert hätte – ob es die Erinnerung an den 92. Gründungstag eines Staates, oder die Gründung des „modernen tschechischen Staates gewesen wäre?

Ist es etwa eine Dummheit von Klaus, seine Unkenntnis der Geschichte des längst nicht mehr existierenden Staates, den er krampfhaft hochjubelt und dessen geistiges Erbe er am Leben erhalten sehen will, oder ist es seine kaltblütige Arroganz gegenüber geschichtlichen Gegebenheiten, seine Berechnung und Überheblichkeit? Oder doch eher nur souveräne Schnoddrigkeit, die einer felsenfesten allgemeinen Überzeugung entspringt, die bis heute in breiten Kreisen unseres Volkes überliefert wird, dass nämlich die Tschechoslowakische Republik, die durch ihr territoriales Ausmaß die historische Grenze der böhmischen Länder weit überschritt und noch wesentlich weiter über die tschechische Sprachgrenze hinausging, in ihrer viele Völker umspannenden Zusammensetzung, wo die Angehörigen des tschechischen Volkes, was die Bevölkerungszahl betraf, nur die Hälfte der Gesamtbevölkerung des Staates ausmachten, dass diese ČSR jener tschechische Staat war?

Hätten sich nämlich am 28. Oktober 1930 Millionen tschechoslowakische Slowaken und Deutsche und Hunderttausende tschechoslowakischer Ungarn und Ruthenen (kurz gesagt grob die Hälfte der Bevölkerung des tschechoslowakischen Staates!) mit dem genauen Wortlaut der Rede Václav Klaus´, die er genau achtzig Jahre später feierlich in Prag vortrug, bekannt machen können, so hätte sich kaum jemand unter ihnen befunden, der sich mit dem unerhörten Gelaber von Klaus über die Entstehung eines „modernen tschechischen Staates“ im Jahr 1918 innerlich hätte identifizieren können. Es hätte sich aufgrund dieser blind aneignenden Wortwahl kaum jemand unter ihnen gefunden, der eine Wahlverwandtschaft und Zugehörigkeit zum neuen Staat empfunden hätte und der diesen Staat auch dementsprechend geschätzt hätte.

Im Gegenteil – selbst die der Tschechoslowakei ergebensten Slowaken, Ungarn und Deutschen müssten, nach dem sie die Ansprache des gegenwärtigen tschechischen Präsidenten gehört hätten, wahrscheinlich im Kopf ihre bisherige Loyalität durchdenken. Und diejenigen, die bereits von Anfang an gegenüber dem jungen tschechoslowakischen Staat Skepsis oder sogar Ablehnung verspürt hatten, hätte die Rede von Klaus in ihrer ablehnenden Haltung nur noch verstärkt. Kurz und gut – die Rede von Klaus wäre für die gute Hälfte aller damaligen Tschechoslowaken (sprich: in diesem Fall aller Bürger des tschechoslowakischen Vielvölkerstaates) eine große Enttäuschung gewesen.

Übrigens, gerade in diesen Tagen, wo „unser 1.“ erfundener „(antiösterreichischer) Widerstand“ wieder seine alljährliche außerordentliche Aufmerksamkeit vonseiten der Medien, Politiker und Widerstandsverbände genießen kann, und wo wir überhaupt bereit sind, diese Terminologie schlichtweg zu akzeptieren (wovon sich dann wiederum „unsere“ weiteren „Widerstände“ chronologisch abzählen), lassen wir doch wenigstens der zweiten Hälfte der damaligen Tschechoslowaken, d.h. allen nichttschechischen Bürgern der ersten tschechoslowakischen Republik (oder des „modernen tschechischen Staates“, wie es Klaus zweimal in seiner Rede formuliert hat) ihre eventuellen offenen antitschechoslowakischen Aktivitäten und ihre späteren Bemühungen zur Zerschlagung der Tschechoslowakei einfach zu. Und zwar mit gutem Gewissen inklusive der gewalttätigen Aktivitäten gegenüber dem tschechoslowakischen Staat. Zu dieser Legitimität kommt auch noch die moralische Genugtuung bzw. Rechtfertigung eines antitschechoslowakischen Widerstandes hinzu, zu dem neulich Václav Klaus mit seiner letzten Ansprache nachträglich und quasi rückwirkend beigetragen hat.

Einen Haken hätte die Sache noch: Wo wird man den antitschechoslowakischen Widerstand einreihen können und wie wird er neben den anderen drei tschechischen Widerständen offiziell benannt – etwa der anderthalbe Widerstand?